Tief durchatmen und erstmal Nichts tun. Die Worte aus Berthe Obermanns Buch "Und hinter mir das Nichts" nachwirken lassen. Wie passend zum Welttag der Suizidprävention (10.09.) ausgelesen.
Dann entscheide ich mich doch dafür, an die Luft zu gehen, in mein Wäldchen. Die Natur um mich zu spüren. Das Gehen auf dem Waldboden erdet mich. Was für eine Geschichte.
Sara, die Protagonistin in diesem Buch, ist eine junge Psychotherapeutin. Der Suizid von Herrn Mangold, ihrem ersten Patienten, zieht ihr den Boden weg. Sie sucht nach Erklärungen, gibt sich die Schuld, etwas in den Gesprächen übersehen, überhört zu haben. Ihr bisheriges Leben wird bedeutungslos. Sie lügt sich immer mehr in etwas Diffuses, nicht greifbares. Die eigene Geschichte klopft an.
S.120: »Normalerweise lüge ich die Menschen um mich herum an, weil sich mein Leben nach Nichts anfühlt und sich das Nichts nicht erzählen lässt.«
Die Autorin überzeugt durch eine dichte, poetische, kraftvolle und anspruchsvolle Sprache. Dieses nicht Greifbare zu beschreiben und zu fühlen, Chapeau! das hat mich am meisten beeindruckt. Mitgenommen zu werden auf diesen Seelengrund. An Sara zu beobachten, wie unser Geist arbeitet, Polaritäten und Imaginationen erschafft und wie zwischen dem sich ergeben wollen das Ringen der Seele zu spüren ist. (Bei Rilke in seinem Gedicht "Geduld" wunderbar beschrieben).
S.221: "»Irgendwann kommt der Punkt, an dem du dich entscheiden musst«, sagte Nikto. »Dann bleibt dir nur mehr das Auflehnen oder die Kapitulation. Du hast die Wahl, es ist deine freie Entscheidung. Wichtig ist nur, dass du ihn erkennst, diesen Punkt, wenn er da ist.«"
Depressive Stimmungen zu erleben, oder durch starke Herausforderungen den Sinn an allem zu verlieren, dass ist vielen Menschen vertraut. In tiefe Depressionen zu fallen, etwas anderes. Das höre ich z.B. von Teilnehmenden in fast jedem MBSR-Kurs. Und hier sehe ich die Kraft der Achtsamkeit bei der Rückfallprophylaxe depressiver Episoden, die u.a. vom deutschen Psychologen Thorsten Barnhofer erforscht und im aktuellen (2017) Buch beschrieben wurde. Oder im 8-Wochen-Programm MBCT (mindfulness based cognitive therapy) von Williams, Teasdale und Segal entwickelt.
Menschen mit Depressionen neigen dazu, auf negative Gefühlszustände mit grübeldem (ruminierendem) Denken zu reagieren. Dieses Gefangensein im Grübelkarussell, wie meine MBSR-Ausbilderin Petra Meibert es in ihrem Buch (siehe unten) beschreibt, kann zu Abwärtsspiralen von negativer Stimmung führen und zu weiteren emotionalen Belastungen. Diesem emotionalen Stress wird häufig mit Vermeidung, Ablenken, Isolation etc. begegnet, die weitere körperliche und geistige Verschlechterungen nach sich ziehen.
Wie eng Gedanken und Gefühle zusammenhängen, kann in solchen Prozessen bzw. Episoden beobachtet werden und ist Teil des Achtsamkeitsprogramms.
Ein Teufelskreis, wie er oft beschrieben wird.
Die wissenschaftlichen Forschungen auf diesem Gebiet zeigen, dass Menschen, die eine depressive Episode durchlebt haben und im Anschluss einen 8-Wochen-Kurs besuchen, die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalles bei 50% liegt. So die englischen Psychologen und Ärzte Williams und Kollegen aus Oxford oder Jon Kabat Zinn. Siehe daszu der französische Filmbeitrag von Arte aus 2017. Immer noch aktuell.
Und was mir Heilsames am Ende im Buch von Berthe Obermanns begegnet, wie die Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt helfen kann, aus einem Grübelkarussell auszusteigen. Das braucht Zeit, Geduld und Mitgefühl für sich selbst, dass sich neue gesunde neuronale Strukturen im Hirn aufbauen. (Neuroplastizität.)
Berthe Obermanns muss es selbst durchlebt haben, denn nur so kann dieses Buch diese enorme authentische Wirkung haben.
S.238: »Aber wenn nichts eine Rolle spielt«, sage ich, »wenn nichts eine Bedeutung hat, warum dann weitermachen mit diesem Leben?«
»Weil du es kannst.«
Ich bin froh, dass das Thema Suizid und Depressionen immer mehr Beachtung und als Erkrankung Anerkennung bekommt, und wie wichtig dabei ein sozial stärkendes Umfeld ist.
Und wie wichtig es ist, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
Literatur:
Thorsten Barnhofer ist Co-Autor des Buches "Achtsamkeit und die Transformation von Verzweiflung", Arbor Verlag, 2017
Dieses Buch wurde schon mehrmals von Teilnehmenden empfohlen:
Mark Williams und Kollegen: Der achtsame Weg durch die Depression, Arbor Verlag, 2009
Petra Meibert und Kollegen: Der Weg aus der Grübelkarussell, Kösel Verlag, 2014
Film/Projekte
Die heilsame Kraft der Meditation, Arte 2017, schon mindestens 30 Mal in meinen Kursen angeschaut, sehr zu empfehlen
Projekt der Robert-Enke-Stiftung: Impression Depression
Danke an die Autorin Berthe Obermanns für die Erlaubnis der Veröffentlichung des Buchcovers.
„Frage nicht, was die Welt braucht. Frage dich selbst, was dich lebendig macht, und gehe und tue das, denn was die Welt braucht, das sind Leute, die lebendig geworden sind..“
Howard Thurman
Schaue Dir gern dazu den Beitrag Das Gesunde in Dir stärken und nähren an.
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